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Monday, June 01, 2009

Die Wanderung

GINGA
Sieben große Gebirge hat die Welt und sieben Ozeane, sieben Himmel ragen darüber, und auf funkelnden Regenbögen sitzen die sieben Wächter der Welt. Die weisesten der Völker prophezeien sieben Zeiten allem Lebendigen, sieben Wanderungen erfährt der Mensch vor seinem Ende, der Ewigkeit. In jeder Zeit sind es sieben Menschen, die die gesamte Schöpfung schauen dürfen, und nicht von ungefähr sind es Kinder, die dazu ausgewählt.

Ginga war ein fröhlicher, lebhafter kleiner Junge, eine Freude für die Augen seiner Mutter, ein Sohn, den der Vater bereits früh mit auf die Jagd nahm. Irgendwann fiel Ginga so unglücklich bei einem Spiel, daß er wie tot liegenblieb, und die schnell herbeigeholten Eltern trugen ihn mit den Verwandten in ihre Hütte und legten ihn dort auf die Bastmatte. Ginga selbst war zu diesem Zeitpunkt bereits in einer anderen Welt, er war von reinem, weißen Licht umgeben, von einer nie gekannten Helligkeit und wohligen Wärme.

Lange weilte er in dieser Freude, und später bemerkte er einen Punkt, erst winzig klein in der Ferne, dann näher kommend sah er, daß dieser Punkt alle Farben der Welt enthielt. Er wuchs immer mehr, begann zu rotieren, wurde zu einem bunten Ball, bis schließlich sämtliches Weiß ausgelöscht war und Ginga in einem unbeschreiblichen Farbenmeer schwamm. Es gab noch keinerlei Formen, nur diese strahlenden Farben, in denen er vollkommen vergessen aufging. Erst späterhin konnte er allerlei geometrische Figuren in den Lichtkaskaden entdecken, Strukturen, die sich beständig veränderten, welche endlich sich in den Bergen, Wäldern, Blumen und Tieren zu einer Einheit wiederfanden.


DER FRÜHE MORGEN
Er rieb sich wie schlaftrunken seine Augen, stand auf und sah sich neugierig um. Ein schönes Land, dachte er, dabei spürte er aber seine trockenen Lippen, und da das Wasser des Sees kristallklar in die Sonne blickte, kniete er nieder. Aus der hohlen Hand trank er das frische Naß, es schmeckte etwas süßlich, gerade recht für durstige Kinderzungen. Kaum hatte er genug getrunken, als er erschrak. Es war kein Spiegelbild zu sehen, obwohl sich alles andere, Berge und Wolken, der blaue Himmel und die hohen Tannen im See spiegelten, er selbst sah sich nicht. Kaum hatte er sich aus diesem Schreck geholt, als ihm wiederum das Herz schier stehenbleiben wollte. Er hatte keinen Schatten mehr, ganz im Gegensatz zu der großen Eiche, die einen langen, schwarzen Schatten auf die Wiese warf.

"Hab keine Angst," hörte er eine Stimme sagen, und noch verwirrter als zuvor schaute sich Ginga um, aber er konnte nichts sehen, was ihm die Richtung der Stimme hätte verraten können. Plötzlich bewegten sich die Äste jener Eiche und aus dem dichten Blätterwerk sprang eine große, schlanke Gestalt auf die Erde. Mit großen Augen sah Ginga nun eine sehr schöne Frau mit langen, schwarzen Haaren auf sich zukommen. Der feine Mund lächelte, und ihre Augen strahlten ihn tiefdunkel an, und ein großer, roter Edelstein - hell auf ihrer Stirn - blinkte.

"Du brauchst keine Angst zu haben," wiederholte sie, während sie sich vor ihm ins Gras setzte. "Du suchst Dein Spiegelbild und Deinen Schatten, tja das ist gar nicht so einfach und auch gar nicht so ungefährlich, aber es ist nicht aussichtslos, wenn Du Dir genau merkst, was ich Dir jetzt sage. Höre genau zu: Dies ist die Welt des jungen Morgens, in der keine Worte Dich verwirren können, denn es gibt keine Sprache." Erst jetzt fiel ihm auf, daß die Frau ihren Mund überhaupt nicht bewegte, er aber trotzdem alles verstand. "Es gibt noch andere Welten neben dieser, aber nicht jede ist so ohne Gefahren, wie die meine. Du brauchst Dich aber nicht zu fürchten, wenn Du auf Deine innere Stimme hörst. Viele werden Dir Hilfe anbieten, einige meinen es ehrlich, andere wollen Dich hinters Licht führen. Nur Dein Herz kann Dir letztlich Ratgeber und Führer sein. Lerne es zu beachten, ihm zuzuhören. Andernfalls wirst Du blind durch die Welten ziehen und Dein Ziel verfehlen. Es ist nicht einfach, denn zuweilen werden Dein Herz und Dein Verstand untereinander streiten. Du wirst zwei Stimmen hören in Dir - wähle sorgfältig und laß Dein Herz Dir sagen, wer ein wirklicher Ratgeber und welches Deine wahre Richtung ist. Es gibt viel Blendwerk auf Deinem Weg. Nun, ich möchte Dir noch einen letzten Rat geben: Gehe in Richtung der Berge." Der Edelstein auf ihrer Stirn begann zu pulsieren, hell leuchtete er in allen Farben der jungen Sonne und hüllte sie bald gänzlich in die sieben Farben des Regenbogens. Dann war sie verschwunden - sie war einfach weg.

Zurück blieb ein erstaunter und auch verwirrter Ginga. Doch das hielt nicht lange an, es war ja die Morgenwelt, in der nur die Neuankömmlinge für kurze Zeit verzweifelt sind. Er schaute nochmals zu dem blauen See, der wie ein Türkis inmitten grüner Wiesen und Wälder lag. Er sah zu der großen Eiche hin, aber als sich dort nicht einmal ein Blatt bewegte, drehte er sich um und marschierte munter drauflos, die Nase zu den Bergen hin.

Die Zeit verging. Es gab für ihn nur Augenblicke - ein Moment hier - einer dort. Immer war etwas zu sehen, überall war Bewegung, fließende Veränderung. Schmetterlinge in seltsam leuchtenden Farben und unmöglichen Formen flogen Zickzack durch die grüne Luft. Bienen summten emsig von eine Blüte zur anderen. Er sah Hasen mit Hunden zusammen auf sonnigen Lichtungen spielen, sah ein Tigerbaby ein buntgeringelte Schlange auf dem Rücken tragen. Und alles schien ihn zu begrüßen, ihm Freundliches zu zeigen. Die Menschen, die ihm dann und wann begegneten, sie sagten kein Wort, lächelten ihn nur freundlich an und zogen ihres Weges.

Er selbst schien ebenso - in ihm war weder Frage noch Antwort, es gab nichts Bedrohliches, alles war einfach, und es mußte so sein. Dennoch - es begegnete ihm nicht nur Vollkommenes. Er sah einen äußerst schönen Schmetterling mit nur einem Flügel; sah einen alten Hund, der nicht ein einziges Haar auf seiner rosabraunen, vernarbten Haut trug. Und er traf einen alten Mann, einbeinig und über und über mit Fisteln bedeckt. Doch auch dieser lächelte ihn aus strahlenden Augen an. Auch hier empfand er Herzlichkeit und Zufriedenheit.

Irgendwann bekam er Hunger, und ganz ohne Gedanken schloß er sich einem jungen Paar an, welches Hand in Hand auf eine der großen Eichen zuging. Schön waren die beiden anzusehen, so weich ihre Bewegungen - voller Harmonie. Und über allem lag der große Frieden. An der Eiche knieten die beiden nieder und legten lächelnd die Hand auf ihre Stirn. Von ferne her hörte er leise ein Flötenspiel. Der alte Baum öffnete sacht die rauhe Rinde, und in einer Höhlung lagen sonderbare Früchte und Kalebassen mit frischem Wasser, ähnlich süß wie jenes Seewasser. Als sich alle drei sattgegessen hatten, waren immer noch genügend Früchte dort, doch Ginga stand auf und ging weiter in Richtung der Berge, die schon recht nahe gerückt waren.

Viel Ungewöhnliches sah er noch an diesem Tag, doch ich will nur noch von einem berichten. Irgendwann, er hatte gerade einen kleinen Bach überquert, sah er etwas im Grase glitzern. Er bückte sich und hob erstaunt ein kleines Bernsteinherz auf, darin eingeschlossen waren viele, noch kleinere, dunkelrote Blätter, die ebenso wie kleine Herzen geformt waren. Das Schönste aber war, daß es zu pulsieren schien. Ja, es bewegte sich ganz sacht - kaum sichtbar. So sehr freute ihn dieses Kleinod, daß ihm eine große Träne aus dem linken Auge kullerte. Fest umschloß er das Herz und wanderte weiter.

Nun, irgendwann gelangte er an die Wurzeln des Gebirges. Und mit einem Schlag war es finster, nur die funkelnden Sterne am klaren, schwarzen Himmel sandten ein kleines Licht auf die Welt. Das geschah so plötzlich, wie er es noch nie erlebt hatte, und ebenso schnell waren wieder Fragen in ihm, war Zweifel da und auch Angst. Was sollte er tun? Wo sollte er schlafen? Er merkte, wie Müdigkeit in ihm hochkam. Und - falls er diese Nacht heil überstand, wohin sollte er sich wenden? Die schöne Frau hatte nur von den Bergen gesprochen, und er hatte keine Fragen stellen können. Ihm blieb nichts anderes übrig, als nach einem weichen Schlafplatz zu suchen und den neuen Morgen zu erwarten, der hoffentlich auch ein junger wird.


DER SPÄTE MORGEN
Ginga erwachte, warum konnte er nicht so genau sagen. Müde noch schaute er sich um und erschrak wie schon am gestrigen Morgen heftig. Die Landschaft, welche er nach dem Erwachen vorzufinden erwartete, war nicht die, die ihn umgab. Von den Bergen, an deren Fuß er abends eingeschlafen war, konnte er nicht einmal in der Ferne etwas ahnen. Gewiß, das Land war mit grünen Hügeln übersät, doch schienen ihm diese kaum höher als die Mangatbäume in seinem Heimatdorf. Bäume gab es dennoch kaum. Hie und da mal ein kleiner Hain mit seltsam knorrigen Stämmen. In diese Landschaft hatte ein Fluß sein glitzerndes Bett gelegt, breit und langsam floß er der Sonne entgegen. Da stand er nun, der kleine Ginga, noch schlaftrunken, hungrig und ohne die Idee einer Richtung. Es gab keine Hilfen, und so fiel ihm nichts anderes ein, als der Weg zum Fluß, denn dort, so sagte ihm sein Kopf, mußte es etwas Eßbares geben.

Sein Weg führte durch grüne Wiesen, wo nur selten eine Blume sich im Winde wiegte. In die wenigen Haine aber getraute er sich nicht, sie lagen dunkel vor ihm. So blieb sein Magen weiterhin ungefüllt, denn vom Rande her konnte er nicht eine einzige Frucht entdecken, und auch Beeren waren nicht zu finden. Lange schon wanderte er, als vor ihm ein Felsen schroff und drohend in den Himmel zeigte. Unheimlich war ihm dies Gestein, nur mit Widerwillen umrundete er es einmal und zog dann schnellen Schrittes weiter. Das dumpfe Gefühl aber blieb in ihm, auch als der Felsen schon außer Sicht war. Er verlangsamte seinen Schritt nicht, er schaute sich oft um, lauschte auf jedes Geräusch. Aber er ging weiter, mit zagem Herzen, doch ohne darauf zu hören. Nach kurzer Zeit sah er in einiger Entfernung einen alten, schon fast gänzlich abgestorbenen Baum, und auf einem der toten Äste glaubte er etwas Vogelähnliches sitzen zu sehen. Solch ein schönes Gefieder war Ginga noch nie vor die Augen gekommen. Seidig glänzend hing lang ein blauer Sterz herab, feurig rote Flügel breiteten sich über den schlanken Körper, leuchtend gelb war sein Schnabel und auf dem schwarzen Kopfe saß hoch ein goldener Kamm, wie eine Krone.

"Glück säume Deinen Weg, und mögest Du immer eine Karaffe frischen Wassers haben." So freundlich begrüßte ihn der Gefiederte.

"Das wünsche ich Dir auch", erwiderte Ginga, da ihm zu solch hübschen Worten nichts Passenderes einfiel. Er erzählte seine Geschichte, und da man zu solch einem hübschen Gesellen wohl Vertrauen haben konnte, sagte er auch, daß er am Fluß wohl Nahrung zu finden glaube.

"Gewiß, mein Freund", antwortete allzu eifrig der Bunte. "Am Ufer wirst Du die feinsten Früchte finden, auch frische Beeren sind dort im Überfluß. Das saftige Obst wird Dir bestimmt schmecken, und die duftenden Nüsse mußt Du erst einmal probieren - ein Genuß! Glaube mir, dort ist Deine Richtung."

Dies hörte Gingas knurrender Magen nur allzugern, es paßte ja schließlich auch zu seinen eigenen Gedanken. Er bedankte sich so höflich, wie es ihm möglich war, bei dem Vogel und ging dann eilig weiter. Dennoch, nicht lange konnten die eitlen Worte sein Herz beschwichtigen, er spürte schon bald wieder ein leises Unbehagen, welches, je näher er dem Flusse kam, größer wurde. Nun waren es nur noch ganz zaghafte Schritte, und dann, nachdem er durch einen schmalen Waldstreifen gegangen war, gelangte er zum Fluß. Was er am Morgen, als er aufgebrochen war, als glitzerndes Band gesehen hatte, stellte sich nun als dumpfer Nebel heraus, der zäh über dem Wasser stand. Von den versprochenen Früchten, Beeren und Nüssen aber sah er gar nichts. Die Verzweiflung stieg in ihm immer höher, und kalte Furcht packte nicht nur sein Herz. So setzte er sich ans Ufer, unruhig starrte er in den Nebel des Flusses. Seltsame Gedanken schossen ihm durch den Kopf, Wirrbilder zeigten sich seinem erschrockenen Auge. Und nun kam auch noch ein brausender Wind auf, der heftig durch die Nebel fuhr, sie bizarr zerzauste und wieder zusammenballte. Der Wind heulte bald klagend, bald dröhnend durch die Bäume. Die Dunstschwaden waren in rasender Bewegung - da schossen hohe Türme schroff gezackt in den Himmel; riesige, schneeweiße Berge wurden in Sekundenschnelle geschaffen und ebensoschnell wieder zerstört, lösten sich auf im Nichts. Weit hinten, auf dem Weg, den er gekommen war, glaubte er die Umrisse von weißen Gestalten zu sehen. Erst ganz klein, so kamen sie dann auf ihn zu, wuchsen, wurden schier zu mächtigen Riesen.

Er schrie auf, doch unerbittlich kamen die drohenden Gestalten wie eine Reihe grimmiger Krieger lautlos auf ihn zu. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, nur die ganz in weiß gehüllten Körper. Glänzende, krumme Schwerter in ihren Händen haltend, schoben sie sich unaufhaltsam näher. Ginga zitterte am ganzen Leib, und ihm blieb keine andere Wahl, als das Wasser. Er sprang hinein. Es war eisig kalt. Er hatte kaum den Grund berührt, als er ein heftiges Ziehen am Gürtel spürte und ans Land gezerrt wurde. Das Heulen des Windes war nicht mehr zu hören. Er spürte wärmende Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht, also öffnete er ängstlich die Augen. Vor ihm saß hochaufgerichtet ein grauer Wolf, der ihn aus mürrischen Augen musterte.

"Na, da hab ich ja was mächtig Zappelndes aus dem Wasser gefischt", sagte er mit dunkler Stimme. "Das gerade ihr kleinen Haarlosen Euch so ganz ungeniert an solch schlimmen Plätzen herumtreiben müßt. Eine Tatze hinter die grünen Löffel - das sollte Dir gut tun. Nun denn, Du Zwerg, es ist ja noch mal gutgegangen."

Ginga betrachtete das bepelzte Wesen recht mißtrauisch, denn ein Wolf als Retter in der Not schien ihn nicht gerade angenehm. Aber der Nebel war weg, die Sonne schien sogar wieder, und auch die groben Worte taten ihm gut. Also faßte er Mut und erzählte ihm seine Geschichte. Der Wolf schien kaum zuzuhören. Er schaute recht mürrisch drein, und als Ginga mit der Frage, wo er denn seinen leeren Bauch füllen könnte, geendet hatte, machte der Wolf lediglich mit seinem Kopf ein Zeichen in Richtung eines großen Hügels, auf dem eine Gruppe von Bäumen stand. Dann trottete er ohne ein weiteres Wort davon. Wieder einmal verzagt und diesmal noch sehr viel unschlüssiger, saß Ginga dort und suchte nach einem Entschluß.

Trotz der barschen Worte, oder vielleicht gerade deshalb, hatte er ein gutes Gefühl zu der alten Pelztatze. Und somit machte er sich in die gezeigte Richtung auf. Kaum hatte er sich vom Fluß entfernt, da verschwand der Schleier vollends von seinem Herzen: alle Nebel in seinem Inneren lösten sich auf, und in der Nähe des Hügels hatte er bereits wieder ein Lied auf den Lippen. Er konnte sogar ohne Furcht in den kleinen Wald hineingehen und fand dort zu seiner großen Freude vieles, was sein Bauch begehrte und seine Zunge liebte. Nicht einmal durch die große Eule, die sich nach leisem Flug auf den Ast ihm gegenüber gesetzt hatte, ließ er sich von seinem Mal abbringen. Die Eule beobachtete ihn interessiert aus großen Augen, wobei sie mal das rechte und mal das linke zuklappte.

"Haben der Herr nun endlich zuende gespeist?" fragte sie, nachdem er sich den Mund abgewischt hatte. "Schließlich habe ich nicht unendlich viel Zeit für Dich, es warten noch andere Aufgaben auf mich. Ich kenne Dich und Deine Erlebnisse, ich weiß um die Gefahr, in die Du hineinliefest. Du hast nicht viel Zeit, zwischen Deinem Herzen und Deinem Kopf unterscheiden zu lernen. Und dies wird nicht die letzte Lektion sein. Sagt Dir das heutige Erlebnis überhaupt nichts?"

Betroffen senkte Ginga den Kopf. Er hatte wirklich noch keine Zeit gehabt, das Erlebte zu verarbeiten. "Nein", sagte er kleinlaut. "ich glaube nicht. Es war so viel. Überhaupt ist alles sehr neu für mich - ich weiß ja nicht einmal, wie ich hierher gekommen bin. Wie gerne hätte ich jetzt Schatten und Spiegelbild und wäre daheim in unserer Hütte."

"Papperlapapp, jammere nicht. Du hast Deine Aufgabe wie alles Lebendige. Und es gibt nur den Weg nach vorne, ein Zurück gibt es nicht - wird es auch niemals geben. Doch lerne erst einmal, fange jetzt damit an. Heute bist Du zwei Wesen begegnet. Beide waren Dir Ratgeber, doch war einer davon ein schlechter Ratgeber. Wenn Du genau darüber nachsinnst, so wirst Du feststellen, daß Dein Herz sehr schnell wußte, was gut für Dich war."

Ginga hatte aufmerksam zugehört, und es kamen die Bilder des Tages zu ihm. Er sah den bunten Vogel, der mit vielen Worten zu seinem Kopf gesprochen hatte. Er entdeckte das Gefühl, das er schon sehr schnell nach dieser Begegnung gespürt hatte. Und er sah den Wolf, der mit wenigen Worten die Angst aus seinem Herzen genommen hatte. Hell leuchtete das Erkennen in seinen Augen, und zufrieden sah die Eule dies.

"Ja, nicht immer sind es die schönen Worte, aus denen die Wahrheit fließt. Nicht immer umhüllt ein schöner Körper auch ein schönes Herz. Nicht immer hört man die Stimme des eigenen Herzens deutlich und laut." Dies sprach mit sanfter Stimme die Eule. Erst jetzt bemerkte Ginga einen roten Edelstein auf ihrer Brust, der hell zu strahlen begann - erst rot und dann in den sieben Farben des Regenbogens. Von einer Sekunde zur anderen war der Platz, auf dem die Eule zuvor gesessen hatte leer, und der Regenbogen verblaßte langsam, bis schließlich auch er verschwunden war, und es Nacht wurde.


DIE VORMITTAGSWELT
Der Lärm einer großen Straße weckte Ginga. Er erwachte ein zweites Mal an einem anderen Ort, als dem, an welchem er eingeschlafen war. Kaum zehn Meter von der Straße fand er sich in einer kleinen Lichtung, die von mannsbohen Büschen umringt war, wieder. Viele Menschen waren unterwegs, und er reihte sich in den Hauptstrom ein, ohne daß auch nur einer der Leute ihn bemerkt oder gar beachtet hätte. Manche gingen eiligen Schrittes - geschäftig, wie es schien; andere liefen fröhlich singend und ausgelassen einher. Bunt war das Bild dieses lauten Weges. Ein jeder hatte scheinbar mit viel Phantasie und Fleiß an seinem Gewand gearbeitet. Es gab vielfältige Formen und Farben - keines glich dem anderen. Frauen waren in leichte, wallende Kleider gehüllt, die sie kunstvoll mit verschiedenen Perlen und kleinen Glaskugeln verziert hatten. Oder sie trugen lange, bunte Röcke, samten oder aus gefärbten Leinen. Aber nicht nur die Menschen waren farbenfroh geschmückt, auch die Tiere, welche manche mit sich führten, hatte man nicht vergessen. Da führte ein alter Mann eine große, weiße Kuh, deren lange, steil über den Kopf ragenden Hörner mit verschiedenfarbigen Ringen bemalt waren. Die Augen leuchteten rotumrandet, während auf jeder Seite des Hinterteils ein schwarzes Zeichen prangte. Eine junge Frau trug einen Vogel, dessen Gefieder schon von atemberaubenden Farben glänzte, dem man aber zusätzlich noch eine grüne Glasperlenkette umgehängt und um jeden Fuß einen mit Muscheln besetzten Ring gelegt hatte.

Dennoch, trotz all der Fröhlichkeit und der Farbenpracht hatte Ginga ein eigenartiges Gefühl. So, als sähen seine Augen anderes als sein Herz. Ab und an waren am Straßenrand einige Hütten aufgebaut, in manchen wurde herrlich Duftendes gebacken und gebraten, in anderen wurden Früchte angeboten; wieder andere hatten allerlei Tand ausgestellt. Vor einer dieser Hütten saßen drei Männer beim Spiel, ein seltsames Spiel mit kleinen Holzwürfeln, und Ginga schaute interessiert zu. Die Männer lachten und hatten wohl ausgiebigen Spaß, doch plötzlich - vielleicht war beim Spiel etwas falsch gelaufen - standen sie sich schreiend gegenüber. Zwar konnte Ginga die Sprache nicht verstehen, aber er spürte den Haß, der von ihnen ausging, und der war so stark, daß er eine Gänsehaut bekam.

Schnell lief er zur Straße zurück und war bald wieder von der bunten Geschäftigkeit eingefangen. Ab und zu stahl er mal einen Apfel oder eine Melone, denn zum Tauschen oder gar Geld hatte er ja nicht. So mochte er eine lange Strecke zurückgelegt haben, als sein Blick zu einem kleinen Platz neben der Straße gelangte. Er ging langsam darauf zu, und nachdem er sich durch die Menge geschoben hatte, sah er zwei Männer im Staube liegend miteinander kämpfen. Am Rande stand eine hübsche junge Frau mit weißer Bluse und schwarzem Rock, in den Ohren zwei goldene Ringe und rotgemalte Lippen. Sie schien die Buhlschaft zu sein und feuerte mit großem Eifer mal den einen und mal den anderen an, wobei sie vor Freude in die Hände klatschte und laut jauchzte. Die Männer hingegen kämpften verbissen. Für sie mag es kein Spiel gewesen sein, sie schlugen hart zu, wobei sie keine Körperstelle unbedacht ließen. Die Frau hatte großes Vergnügen daran. Je härter der Kämpf wurde, desto lauter lachte sie. Mit der Zeit aber verlor sie ihr Interesse und begann einem hübschen jungen Mann zuzulächeln. Schließlich ging sie mit diesem scherzend und lachend zur Straße. Die beiden Kämpfer merkten dies erst später, und völlig verdutzt standen sie dann dort und schauten der Geliebten nach. Schmunzelnd löste sich die Menge auf.

Auch Ginga ließ sich von der wogenden Menschenmasse forttragen. Das Treiben wischte seine Gedanken hinfort, er war ganz Auge und Ohr. Manchmal sah er einen Mann im Straßengraben liegen, das Gesicht im Erbrochenen, im Gestank von Alkohol. Er wurde von einer Sänfte, welche sechs kräftige Männer trugen, überholt. Obenauf saß ein dicker, feister Mensch, in feines Tuch gehüllt und mit schweren Ringen an den wulstigen Fingern. Hochmütig saß er dort oben und schaute verächtlich auf die zu Fuß Gehenden. Er sah aber auch eine Familie, schmuddelig und in alte Säcke gekleidet, die jedoch für eine Mahlzeit an einem der Stände mit einem großen Geldschein zahlten, von denen noch ein ganzes Bündel in der Hand des Mannes lag. Dann begegnete ihm jene junge, hübsche Frau, in schwarzweiß gekleidet, und diesmal lief sie weinend und flehend hinter einem Mann her, der sie jedoch keines Blikkes würdigte. Auch den Mann auf der Sänfte traf er wieder. Nur diesmal stand er bettelnd am Wegesrand und war in Lumpen gehüllt.

Seltsam, dachte Ginga. Und während er über das Gesehene nachdachte, wurde die Straße immer leerer, bis er nur noch selten einem Menschen begegnete. Der Weg führte durch einen Wald, und weiter vorn verzweigte er sich. Neben der rechten wie neben der linken Straße sah er einen Feuerschein. Welche dieser Straßen sollte er gehen? Auf der Höhe der Gabelung angelangt, sah er zu seiner Rechten einen alten, weißhaarigen Mann vor dem Feuer sitzen. Lang hing ein weißer Bart von seinem Kinn.

"Komm nur", sagte mit leiser Stimme der Greis. "Ich möchte Dir etwas zeigen, aber erschrick nicht." Er hatte neben sich auf einem kleinen Tischchen einige Glasflaschen stehen, von denen er nun eine nahm und etwas von dem Pulver, das sich darin befand, ins Feuer schüttete. Sofort änderte die seine Farbe. Hoch schossen grüne Flammen daraus empor, und als der Mann mit einem langen Stock dareinschlug, änderte sich die Höhe der Feuerzungen im Takt des Schlages. Wieder wurde ein Fläschchen geöffnet, und sobald das grüne Zeugs im Feuer war, formten sich die Flammen zu kleinen gelben Kugeln, die sich schnell um ihre eigene Achse drehten. Schon bald wurden aus den hellen Bällen winzige Blitze geschleudert, die im Nichts verschwanden. Ein neues Pulver ließ tausende Sterne aus dem Feuer sprühen, und zufrieden leuchtete das Gesicht des Weißhaarigen im Schein der Flammen. "Na, was sagst Du zu meiner Kunst?" fragte er Ginga. "Hübsch, wirklich ein schönes Spiel."

Das freundliche Gesicht des Alten verwandelte sich sofort in eine böse Grimasse, und er schimpfte, was einem so jungen Schnösel nur einfiele, seine erhabene Kunst ein Spiel zu nennen.

So stand denn Ginga auf und begab sich zum linken Weg, wo ein Jüngling, fast noch ein Kind, vor dem kleinen Feuer saß. Ohne ein Wort setzte sich Ginga ans Feuer, starrte schweigsam hinein. Sanft, ganz ohne Hast züngelten die Flammen empor. Der Jüngling schloß nun die Augen, begann leise mit zarter Stimme ein Lied zu singen. Auch diese Flammen wiegten sich im Takt, aber seltsam ruhig schienen sie sich mit der Melodie des Jungen zu vereinen. Trotz der Ruhe war beständige Veränderung in dem Schein, mal wuchsen die Feuerzungen, dann wieder waren sie sehr niedrig - gedrängt in einer Ecke. Gesichter waren zu erkennen: junge lachende und alte runzelige. Es gab Dämonen zu sehen, die sich drohend gebärdeten, und engelsgleiche, die lieblich und hell leuchteten. Ganze Gestalten tanzten einen herrlichen Reigen in wunderbarer Harmonie. Einmal zuckte eine der flammenden Gestalten aus der Mitte empor, während alle anderen wie kleine Kerzen im Kreise darum leuchteten. Dann wieder gab es sonderbare Farben zu sehen, es waren bläulichgrüne Kugeln, türkisene Türme, violette Sterne und sogar schwarze Pilze aus dem gleichmäßig gelben Schein herausgekommen. Langsam verstummte der junge Mann. Das Lied war beendet und mit ihm der Zauber des Feuers. Ganz einfach flackerte es im Rund der aneinandergelegten Steine.

Ginga schaute noch eine Weile ins Feuer, was ihm Kraft und Frieden schenkte, stand dann wortlos auf und wollte sich zum linken Weg begeben.

"Recht ist Deine Entscheidung", rief da der Wächter des Feuers. "Aber morgen wirst Du eine ganz andere Welt erleben, und Du wirst einen Führer brauchen. Wähle sorgfältig." Noch einmal begann er dann ein Lied, noch einmal wuchs das Feuer, und aus dem Schein löste sich ein siebenfarbige große Flamme. Sie kam auf den Jüngling zu, und dieser hob die linke Hand, wo ein Ring mit einem roten Edelstein den linken Zeigefinger schmückte. Dann wurde es Nacht, und weder von dem Jungen noch von dem Feuerschein konnte Ginga etwas sehen.


DIE MITTAGSWELT
Die hohen Wellen krachten mit großer Wucht gegen die Felsen. als Ginga erwachte. Diesmal war er über den Platz, an dem er sich wiederfand, gar nicht überrascht. Es war ein kleiner, weißer Sandstrand, an beiden Enden von riesigen Felsblöcken eingegrenzt. Die Sonne stand schon fast im Zenit der großen Palmen, im Schatten war es kühl, und der beständige Wind vom Meer her tat ein übriges. Es hatte keinen Zweck, hier am Strand zu bleiben, überlegte er, ich muß wohl weiter ins Hinterland gehen. Über die steilen Felsen am Strandende zu klettern, schien ihm nicht möglich. Also auf geht's. Anfangs war es noch einfach, die Palmen standen nicht sehr dicht, und es wuchs nur niedriges, hartes Gras auf dem Boden dazwischen. Doch dann stieg das Gelände an, erst ganz sanft, dann immer steiler werdend, so daß er manches Mal eine Pause machen mußte. Es waren jetzt auch mehr andere Bäume zu sehen, und der Wald wurde dichter. Das Buschwerk wuchs nun ebenfalls kräftiger, so daß ein Fortkommen immer beschwerlicher wurde.

Plötzlich, schweißüberströmt, stand er unter einem riesigen Blätterdach, dessen Durchmesser wohl zweihundert Meter überschreiten mochte und das von einem breiten, kräftigen Stamm in der Mitte gehalten wurde. Er konnte gerade stehen, dann berührten die ersten Blätter seinen Kopf. "Twee, Twee", machte es, und kaum einen Meter vor ihm landete ein mächtiger Garuda mit ausgebreiteten Schwingen.

"Heil, Menschenkind", begrüßte er Ginga. "Ich habe auf diesen Baum zu achten. Seltsame Dinge widerfahren dem Wanderer, der das müde Haupt in seinen Schatten legt. Sei vorsichtig!" Mit diesen Worten erhob er die mächtigen Flügel und flog geräuschlos davon.

Ginga stand ganz verdutzt dort und dachte über das Gehörte nach, als er seine Erschöpfung spürte und die Augen ihm schwer wurden. 'Ein kleines Nickerchen kann ja nicht schaden', dachte er und setzte sich, den Rücken an den festen Stamm gelehnt, auf den Boden. Seine Augenlider krachten aufeinander, so als würden schwere Eisengitter an rasselnden Ketten heruntergelassen. Lichtblitze schossen wie wild vor seinen geschlossenen Augen dahin. Sie zerplatzten in tausenderlei Farben. Und aus eben diesen Farben formten sich Gesichter - buntschillernd, bedrohlich zu Grimassen zerfließend. Mit Macht stürmte nun ein diabolischer Zauber auf ihn ein, umschloß ihn, stob über ihn hinweg und begrub ihn wie eine Springflut ein kleines Eiland. Von weit hörte er ein höhnisches Gelächter. Knöcherne Hände versuchten beständig ihn zu fassen und überall jene gräßlichen Masken, die, sich unaufhörlich wandelnd, immer grausiger, immer schrecklicher wurden. Vor ihm entstand eine lebende Wand aus tausenden Gesichtern, einige mit gefährlich spitzen Zähnen, welche wie kalte Messer aus verzerrten Mündern blitzten. Es kamen Echsenköpfe auf ihn zu mit klebrigen Zungen, gehörnte Wesen mit feurigen Augen und flammenden Nüstern. Immer größer wurde das Chaos um Ginga, und je mehr seine Angst wuchs, desto grausiger wurde die Schreckenswelt.

Zu den bizarren Bildern gesellten sich nun auch noch Geräusche, die ihm ebenfalls Unheil kündeten. Er sah riesige Fischköpfe - rumpflos - und bei jedem Maulöffnen hörte er deutlich die Totenglocke seines Dorfes läuten. Das Klappern von Schildern und Speeren wurde laut hörbar, und ein schriller Todesschrei ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Ginga sah abgeschlagene Arme und Beine auf ihn zukommen und kurz vor ihm zu Staub zerfallen. Mächtige Raubvögel mit blutverschmierten Schnäbeln schossen im Sturzflug auf ihn herab. Doch bevor sie ihn schreiend erreichten, fielen ihnen sämtliche Federn aus, und sie stürzten haltlos in den Boden. Sofort wuchsen daraus riesige Schlangen, die sich züngelnd ihren Weg zu Ginga bahnten, ihm über Arme und Beine auf den Hals zukrochen. Unerträglich wurde es ihm, und nur ein Schrei aus seiner heiseren Kehle erlöste ihn von den Schlangen, die grünblutend und stinkend von ihm fielen. Doch dort, wo sie den Boden berührten, wuchsen in Windeseile schleimige Pilze, die sich triefend schon über seine Beine breiteten. Ginga konnte es nun nicht mehr aushalten. Kein klarer Gedanke war nun mehr in seinem Kopf, nur noch Worte und Satzfetzen. Geblubber, das für einen Augenblick in sein Bewußtsein drang, sich aber sofort blitzschnell wieder zurückzog und durch andere, angstmachende Bruchstücke ersetzt wurde. Daß dies der Wahnsinn war, das konnte Ginga nicht erfassen, sondern nur für einen Moment fühlen.

Und plötzlich hörte er in all diesem Getöse ein laute, klare Stimme: "Das Herz, denke an das Herz." Immer wieder erklang diese Stimme. Immerwieder, immerzu wurden diese Worte wiederholt, bis sie schließlich ganz sacht ihn ausfüllten. Langsam griff seine Hand in die Hemdtasche. Er fühlte nun das kleine Bernsteinherz, das er am klaren Bach in einer ganz anderen Welt gefunden hatte, in seiner zitternden Hand. Und er fühlte, wie es sich bewegte, ganz sanft pulsierte. Und ohne daß er wußte warum, führte er die Hand mit dem Kleinod darin an die Stirn.

Eine angenehme Kühle breitete sich nun von seinem Kopf über den ganzen Körper aus, und es wurde ihm klar, daß Angst nur im Kopf existieren konnte. Daß alles Grausame, alle Greuel nur der Verstand produzierte, denn das Herz selbst ist dem Wesen der Dinge näher, als es der Kopf jemals sein kann. Und mit dieser Erkenntnis verblaßte Schreckliche, wurde schemenhaft und verschwand. Zurück blieb nur das leise Rauschen der Blätter über ihm, und als Ginga erleichtert die Augen öffnete, saß vor ihm der Garuda.

"Nichts bleibt mehr zu sagen übrig. Du hast den rechten Führer alleine gefunden und die Macht des Baumes gebannt. Mag die Sonne Deinen Weg erhellen und Du den Mittelpunkt der Welt erkennen." Die Augen des Garuda funkelten rot, und Ginga sah, daß es Edelsteine waren, die nun in den Farben des Regenbogens zu strahlen begannen. Hell leuchtete der Garuda, bevor er im Nichts verschwand. Ginga schien sich an dieses Wunder gewöhnt zu haben, denn er schlief friedlich unter sternenklarem Himmel ein.


DIE WELT DES NACHMITTAGS
Ginga träumte, jemand würde ihn rütteln. Aber dazu war das Rütteln zu hartnäckig, und so öffnete er die Augen. Vor ihm kniete ein Mädel, hübsch anzusehen mit langen, blonden Zöpfen und lachenden blauen Augen.

"Nun wach schon auf, Du Schlafmütze", sagte sie streng, aber sie mußte dennoch lachen. "Was machst Du denn hier, so weitab von der Straße?"

Ganz ohne zu überlegen antwortete Ginga, die Stimme noch ein wenig schlafrauh: "Weißt Du, ich habe mein Spiegelbild verloren und meinen Schatten und nun bin ich auf der Suche danach."

"Das ist natürlich schlimm, und ich hoffe, du hast Glück bei Deiner Suche. Aber jetzt wirst Du wohl hungrig sein, und das ist erst einmal wichtiger als Schatten oder Spiegelbild. Komm doch mit zu unserem Haus. Großvater wird Dir etwas zu essen geben." Und kaum hatte sie's gesagt, da nahm sie seine Hand und zog ihn fort. Er war auf einer kleinen Waldlichtung erwacht und wurde nun unter Tannen fortgezogen. Es duftete herrlich dort von den Tannenzapfen her. Die Luft war frisch und klar.

Ginga schaute zurück und sah, daß ihnen in kurzem Abstand ein kleines Rehkitz folgte.

"Sieh doch mal", sagte er, "das Kitz scheint ganz zutraulich zu sein - es folgt uns."

"Gewiß", antwortete das Mädel, "das ist doch Päppchen, das Braune." Und dabei schaute sie Ginga etwas verwundert an. Aber sie erlaubte keine Rast, sondern zog ihn weiter fort. Es fand sich bald ein breiter Weg durch die Tannen, auf dem die beiden nebeneinander gehen konnten. Aber das Mädchen ließ dennoch Gingas Hand nicht los. Sie begann leise eine Melodie zu singen, und Ginga mußte zugeben, noch niemanden so fein singen gehört zu haben. Und mit diesen sanften Tönen begann sein Herz zu schwingen, und er wurde davongetragen. Immer höher hinaus an den Tannen vorbei hoch zu den Wolken hin. Glänzend lag das Land vor seinem Herzen in der gleißenden Sonne und schien ebenso durchdrungen von der reinen Melodie des Mädchens.

Weit hinten am Horizont sah er schwerelos wie er selbst einen mächtigen Vogel schweben, getragen von geheimnisvollen, unsichtbaren Kräften. Langsam wurde die Stimme leiser, und Ginga fand sich auf dem Waldweg wieder, neben ihm das Mädchen, als sei nichts gewesen. "Gleich sind wir da". sagte sie. Und schon kamen sie aus dem Wald heraus.

Der Weg führte über eine steinerne Brücke. Darunter plätscherte ein kleiner, klarer Bach. Und oben auf einem grünen Hügel war ein Haus zu sehen, aus großen, grobgemeißelten Steinen gebaut, mit einem Strohdach und rotem Schornstein darauf. Darum war ein wunderschöner Garten, in dem die Blumen mit großen Blüten wuchsen, einige kelchig, andere kugelrund. An der Steinbrücke drehte sich die Kleine um und bückte sich zu dem Kitz und streichelte es zärtlich.

"Hey Braunes, Du gehst jetzt wohl besser zu Deiner Mutter zurück. Es ist schon recht spät." Als hätte es alles verstanden, drehte sich das Braune um und tippelte in den Wald zurück. Die beiden Kinder hingegen gingen zum Haus hinauf. Ginga roch die vielen Kräuter, die ihren starken Duft in die klare Luft schickten. Ein schwarzes Pony kam angetrabt, das Mädchen rief: "Hallo, Bärla, wohin so eilig?" Dadurch ließ sich das Schwarze aber nicht aufhalten, sondern lief schleunigst weiter. Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf, und oben vom Haus her rief eine Stimme: "Laß nur, Elera, er wird sich schon wieder beruhigen."

Aus einem der kleinen, runden Fenster schaute ein alter Mann heraus. Er lachte mit tiefer Stimme, und alles, Augen, Mund und Nase, ja sogar die Falten in seinem Gesicht schienen zu lachen.

"Kommt nur herein, ihr Beiden, der Tisch ist schon gedeckt." Und so betrat Ginga schüchtern die saubere Stube, wo der alte Mann ihn begrüßte. "Setz Dich hierher." Er zeigte auf eine große Holzbank, welche vor dem gedeckten Tisch stand. "Bilga hat mir von Eurem Kommen erzählt." Dabei zeigte er auf einen zerzausten Raben, der keck im offenen Fenster saß.

"Was war denn mit Bärla los, daß er so schnell davonrannte?", fragte Elera.

"Ach, das übliche. Er hat das Küchenfenster geöffnet und einige Mohrrüben geklaut. Daraufhin hab ich ihn mächtig ausgeschimpft und ihm einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen. Das hat ihm gereicht." Ginga wurde nun aufgefordert, tüchtig zuzugreifen, was er sehr gerne tat. Während des Essens wurde viel erzählt und noch mehr gelacht. Der Großvater wußte eine Menge Lustiges zu berichten. Ab und zu kam eine Katze herein, und auch sie wurde vom großen Tisch bedient. Nach dem Essen mußte Elera die Tiere füttern, und Ginga begleitete sie, während der Großvater in Hause arbeitete.

"Wo sind denn die Ställe?" fragte Ginga, als er hinters Haus geführt wurde, aber keine weiteren Gebäude oder Zäune sah.

"Es gibt keine", war die kurze Antwort. Hinterm Haus standen große, geflochtene Körbe bereit, gefüllt mit Getreidekörnern, grünen, sauberen Blättern und Mohrrüben.

"Eran, Wildor, Beron, Milda, kommt her, es ist Fressenszeit", rief mit heller, lauter Stimme Elera. Und aus dem Wald kamen Schweine und Hühner, eine braunweiße Kuh mit ihrem Kalb von der Wiese her, und auch eine Ziege kam daher. Jedes dieser Tiere wurde gestreichelt und liebkost, was sie gerne mit sich geschehen ließen. Und sie wurden auch während des Fressens mit lieben, zarten Worten bedacht.

Ginga spürte in diesem Moment einiges von der Liebe, die Elera den Tieren entgegenbrachte und war erstaunt über deren Zutraulichkeit und Verstehen. Ganz zum Schluß kamen auch noch wildere Tiere zur Fütterung: Hasen, Füchse, kleine, bunte Vögel, Päppchen, das Rehkitz. Sie alle waren ohne Angst gekommen und ließen vieles mit sich geschehen, was Ginga in ungläubiges Staunen versetzte.

Schließlich war alle Arbeit getan, und noch einmal setzten sich alle drei an den großen Tisch und tranken heißen Kräutertee und erzählten. Es war ganz unversehens spät geworden, und Elera wollte schlafen gehen. Sie stand auf, gab Ginga die Hand und sagte: "Es war schön mit Dir, und ich hoffe, Du findest Deinen Schatten und Dein Spiegelbild Schlaf wohl." Und dann drückte sie ihn herzlich und verschwand in ihrer Kammer. Ginga blieb zurück mit offenem Herzen, und schweigsam schaute der Großvater der Geschichte zu, die er in Gingas Gesicht las.

"Nun wird es wohl auch Zeit für Dich zu schlafen. Ich habe für Dich ein weiches Lager bereitet." Und er führte Ginga in eine Kammer, wo mit weichem Moos ein kleines Bett gebaut war. Als Ginga lag, kam ihm wieder der Gedanke mit den Ställen und er fragte: "Warum habt Ihr keine Zäune hier für die Tiere, laufen sie Euch denn nicht weg?"

Der Großvater schaute ihn lange Zeit ruhig an und antwortete dann: "Die Antwort auf diese Frage kennst Du schon, und wenn Dein Kopf sie jetzt noch nicht erfassen mag, wie sollten dann meine Worte erklären können. Du hast auch in dieser Welt gelernt, mein Sohn, aber nicht mit dem Kopf." Im Ohr des Alten leuchtete nun ein roter Edelstein und sandte sein Strahlen aus, bis die Farben des Regenbogens das kleine Zimmer ausfüllten und Ginga äußerst friedlich eingeschlafen war.


DIE WELT DES ABENDS
Ginga erwachte am Fuße eines Berges. Er hatte es zwar nicht anders erwartet, aber gehofft hatte er schon, wieder in der Kammer zu erwachen. Aber er war nun einmal dort, woran er nichts ändern konnte, und so schaute er sich um. Die Sonne hing schon sehr tief am Horizont, und an der Art des Lichtes sah er, daß es Abend wurde. Um ihn herum gab es kaum Gewächse, weder Baum noch Blume konnte auf dem felsigen Grund Wurzeln setzen. Ein steiniger Pfad führte hoch in Richtung des Gipfels, welcher schroff in den Himmel ragte. Kurz darunter konnte er dunkel, im Schatten des Gipfels liegend, eine Burg erkennen. Mit steil aufragenden Türmen lag sie wie ein riesiger Felsblock an der steilen Wand, aus demselben Stein gehauen wie der Berg. Dort lag sein Ziel, das wußte er irgendwie.

Der Aufstieg war nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte. Nicht nur, daß es sehr steil wurde, auch lagen zum Teil größere Gesteinsbrocken auf dem Weg, die er zu übersteigen hatte. Aber schließlich hatte er den größten Teil geschafft. Auf einem kleinen Plateau lag im Zwielicht der Berge dunkel die Burg vor ihm. Ein Zugtor versperrte den Zugang, und Ginga stand recht ratlos vor dem schweren Eisengitter. Klopfen, schien ihm, hatte hier keinem Sinn. Also schrie er aus Leibeskräften.

"Hey, hey, öffnet. Öffnet einem hungrigen Wanderer." Nichts geschah. Erst nachdem er es noch einige Male versucht hatte, konnte er Schritte in schweren Stiefeln hören, und hinter dem Gitter erschien ein alter Mann in einer zerlumpten Uniform.

"Heil, Fremder", grüßte er mit tiefer, zitternder Stimme. "Was willst Du denn hier oben, in der Kälte, in der Einsamkeit?"

"Ich habe mich verlaufen." antwortete Ginga, "und nun bin ich hungrig." "Warte!" Der Wärter verschwand. Er ging in eine Tür und kam einige Zeit später aus derselben wieder hervor. "Du hast Glück," sagte er. "der Herr hat eine gnädige Laune heute und will mit Dir sprechen." Er führte Ginga durch die gleiche Tür, durch die er gekommen war, und dann mußten sie eine Wendeltreppe hoch, die in einem langen Gang endete. An den Wänden waren Masken gehängt und auch Bilder von Männern und Frauen. Ansonsten war der Korridor leer, kein Teppich, kein Stuhl war zu sehen. Nichts, was etwas Licht in all diese Dunkelheit hätte bringen können.

Gingas Führer hielt vor einer Tür und klopfte zaghaft. Sie mußten einige Zeit warten, bevor eine befehlende Stimme ihnen Einlaß erlaubte. Ginga kam in einen großen Raum, der zwar etwas mehr an Möbeln und Schmuck enthielt als der lange Gang, aber dennoch ebenso dunkel und kühl war. Neben einem hohen Sessel stand ein älterer Mann mit eisgrauen Haaren und kalten, blauen Augen.

"Tritt näher, Kleiner", rief er und winkte ihn mit der Hand zu sich. "Du hast Dich also verlaufen, bist nun hungrig. Gut, wir haben selten Fremde hier, und ich erlaube Dir, mit uns zu speisen, aber erzählen mußt Du, viel erzählen." Und nun begann eine fürchterliche Stunde in Gingas Leben. Er hatte Angst vor diesem Mann, die sich erst etwas legte, als er eine Frau erblickte, welche in einem Sessel saß und mit einer Näharbeit beschäftigt war. Sie sah auf und lächelte Ginga freundlich an, sagte aber kein einziges Wort.

So mußte Ginga denn von seinem Weg erzählen, wobei er aber nicht das Gefühl hatte, der alte Herr würde ihm wirklich zuhören. Oft ließ er einen Diener kommen, der ihm Wein brachte, den er oft laut anbrüllte und ihn wegen irgendwelcher Dinge schalt. So ging es in einem Fort, bis Ginga erleichtert feststellte, daß der Tisch gedeckt wurde und es Zeit zum Essen war. Er durfte sich an das eine Ende der Tafel setzen, während die freundliche Frau in der Mitte platznahm. Es wurde aufgetischt, und auch hier konnte keiner der Diener es dem Herrn recht machen. Er schrie zu Zeiten so laut, daß Ginga zusammenfuhr. Und dann beobachtete Ginga etwas Seltsames. Er sah, wie der Herr sein rechtes Bein vom Tisch wegstreckte und so der Diener, welcher gerade einen Krug Wasser trug, stolperte und einiges von dem Wasser verschüttete. Wild sprang der Herr auf, schimpfte und schrie den verängstigten Diener an und prügelte ihn schließlich aus dem Raum. Mit zitternden Händen, aber schweigend, setzte sich der alte Mann wieder an den Tisch, und man aß für kurze Zeit wortlos weiter. Doch hielt dies nicht lange, der Mann fuhr die Frau wegen irgendwelcher Haushaltsdinge an. Und auch Ginga, der verlegen seine Mahlzeit aß, bekam seinen Teil ab, als ihm vor Schreck, da der Mann aufschrie, ein Löffel aus der Hand fiel.

Ohne ein weiteres Wort wurde dann das Mahl beendet, und nun sprach zum ersten Mal die Frau mit ihm: "Ich habe für Dich eine Kammer bereiten lassen. Es ist schon zu spät, um heute noch weiterwandern zu können." Ein Diener kam, und Ginga verabschiedete sich äußerst höflich und bedankte sich für die Gastfreundschaft.

Die Kammer war klein und spartanisch, aber das Bett roch sauber und frisch. Es stand ein Krug mit klarem Wasser und eine Schüssel bereit. Nachdem er sich gewaschen und kaum mit dem weißen Laken zugedeckt hatte, klopfte es leise an der Tür. "Ich wollte schauen, ob Du auch alles hast, was notwendig ist", sagte die nette Frau und kam herein. Sie setzte sich auf die Bettkante und schaute ihn lächelnd an und strich ihm zart das Haar aus der Stirn.

"Du darfst es meinem Mann nicht übelnehmen, daß er auch Dich schlecht behandelt hat. Irgendwann einmal hat er sein Licht aus den Augen verloren und den falschen Weg eingeschlagen. Ich selbst hatte damals noch kein offenes Herz und sah nicht das Unglück, in das er lief. Aber ich weiß nun, daß er sich im tiefsten Innern nicht geändert hat, nur seine äußere Hülle ist hart und grau geworden, nur seine Angst macht ihn böse. Aber Du wirst müde sein, Dein vorletzter Tag des Lernens ist vorüber, und morgen wirst Du noch sehr viel mehr lernen und Du wirst verstehen. Schlaf jetzt wohl, mein Kleiner." Sie deckte ihn behutsam zu, und aus ihren rotleuchtenden Augen kamen die Farben des Regenbogens und hüllten ihr Gesicht ein, bis Ginga sanft ins Traumreich glitt.


DIE WELT DES SONNENUNTERGANGS

Ginga erwachte im Zwielicht eines dichten, dunklen Urwaldes. Um ihn herum gab es nichts als diese riesigen Bäume, deren Kronen er nicht einmal sehen konnte. Es gab keine Anzeichen eines Weges oder kleinen Pfades, nur tiefe Schatten um ihn herum. Somit schien es ihm gleich, wohin er sich wenden sollte, und er ließ sich von seinen Beinen führen. Hätte er gewußt, wie wichtig gerade diesmal seine Richtung war, so hätte er sich viele Gedanken gemacht und gerade dadurch sein Ziel verfehlt.

So aber trugen ihn seine Beine immer näher zu einer Stelle im Wald, wo ein kleiner Schimmer, eine winzige Helligkeit zu sehen war. Ginga bemerkte dies erst spät und lief sodann mit schnellen Schritten darauf zu. Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Seine Beine trugen ihn keinen Zentimeter näher heran an diese helle Wand, hinter der er etwas verschwommen, aber sehr hell, eine schöne Landschaft entdecken konnte. Er sah einen See, Bäume und Berge. Dennoch, seine Beine versagten den Dienst, und so sehr er sich auch mühte, es gab kein Weiterkommen.

Traurig sank er auf die Erde nieder, das Herz wurde ihm schwer, und mit einem Male überkam ihn eine gewaltige Verzweiflung. Ein Gefühl, zu dem ihm der Reigen der Welten, seitdem er ihn betreten hatte, keine Möglichkeit gab. Tief saß der Schmerz in seinem Innern, und die Suche nach Spiegelbild und Schatten kam ihm so sinnlos vor. Er war verzweifelt, und schließlich rannen ihm Tränen über die Wangen, und einer dieser Tropfen fiel wie ein Herz auf seine Hand. Glitzernd blieb er dort einige Zeit liegen, klar und rein. So kam Ginga das Bernsteinherz ins Gedächtnis, welches ihm schon einmal aus großer Not geholfen hatte.

Er holte es aus seiner Tasche und hielt es zwischen zwei Fingern, so daß er es in Ruhe betrachten konnte. Schön, ja wirklich schön war es anzusehen, und es ging eine Kraft davon aus, die er nicht sogleich bemerkte, die aber beständig zu ihm herüberfloß und eine Stimme tief in seinem Herzen weckte. Eine anfangs leise, zarte Stimme, die wuchs, kräftiger wurde und schließlich den Weg über Ginga Zunge fand, und er nun zu singen anfing. Er sang laut, und mit starker Stimme sang er das Lied der Liebe. - Er sang Eleras Lied:

In Deinen Augen sehe ich das Leuchten,
das aus Deinem Innersten kommt,
wie könnte ich's in Worte fassen?
Ich liebe Dich.

In Deinen Augen spüre ich das Leuchten,
das mir von all der Wärme Deines Herzens spricht
und mich Deinem Wesen näherbringt.
Ich lebe Dich.

In Deinen Augen erkenne ich das Leuchten,
das auch mein eigenes, innerstes Leuchten ist
und mir all meine Gedanken nimmt.
Ich bin Du.


Und genau wie auf jenem Waldweg, wurde er auch hier von den Schwingen des Liedes emporgetragen. Er schwebte an den Bäumen vorbei, leicht - auch in seinem Innern. Es ging immer höher, bis er auch jene, unsichtbare Barriere überwand, die ihn von der verheißungsvollen Landschaft getrennt hatte. Seine Stimme wurde leiser, und als der Gesang geendet hatte, fand er am Ufer eines leuchtend blauen Sees in seinen Körper zurück.

Ein seltsames Gefühl war in ihm, als er sich umschaute. Er meinte dies alles zu kennen, es war ihm auf eigenartige Weise vertraut. Der tiefe See, an dessen Ufer die hohen Tannen grün in den Himmel wuchsen und die schneebedeckten Berge, die sich im klaren Wasser spiegelten. Erst als er die große Eiche sah, kam ihm die Erinnerung. Dies war die erste, die wortlose Welt, der Ausgangspunkt seiner Suche. 'Endlich', dachte er, 'nun bin ich am Ziel.' Und ein wenig ängstlich ging er zum See hinunter. Er getraute sich erst gar nicht, dort hineinzusehen, aber schließlich wagte er es doch.

Langsam öffnete er die Augen, und mit einem freudigen Aufschrei sah er in sein eigenes Spiegelbild. Lange schaute er es sich an, und plötzlich kräuselten sich kleine Wellen in sein Bild, und er sah ganz andere Dinge. Es waren Bilder aus seiner Wanderung. Noch einmal zogen die Welten an ihm vorbei. Aber er sah sie nun ganz anders, er sah sie mit dem dritten Auge, das sich nun ganz geöffnet hatte.

Da war die erste Welt, in der es keine Begriffe gab, die irgendwelche Zäune hätten errichten können. Er sah das Paar, mit dem er das Essen geteilt hatte, und begriff nun, daß sie, wie diese ganze Welt, in einem Urzustand waren. Sie begegneten einander ausschließlich mit ihrem Wesen, nicht mit dem Kopf. Es lag kein Erkennen in dieser Welt, aber auch keine Mißverständnisse und Mißdeutungen. Alles war rein - es war an sich und nichts anderes.

Bilder der zweiten Welt kamen zu ihm, zeigten ihm die eigene Angst und wie sehr diese mit dem Kopf verflochten war. Wie sehr die Sicht der Welt von seinen Gedanken beeinflußt war, das zeigten ihm die Bilder. Der Fluß lag ruhig und friedlich in der Landschaft, und es gab sogar Obstbäume an seinem Ufer und auch duftende Nüsse - gar nichts Bedrohliches.

Der See zeigte dann die dritte Welt, den Vormittag, an dem nichts war, wie es schien, und nichts schien, wie es wirklich war. Ginga sah die drei Männer, welche sich nachher gestritten hatten, beim Spiel vor der Hütte. Und alle drei hatten sein - Gingas Gesicht. Ginga sah das Mädel, derentwegen sich die zwei Männer geprügelt hatten, und er sah, daß er selbst dieses Mädel war. Ginga wurde wieder von der Sänfte überholt, und diesmal war er selbst es, der dick und feist oben sitzend getragen wurde, um schließlich bettelnd am Straßenrand zu stehen. Dies kündete ihm diese Welt, daß er selbst in allem war, daß er dies alles ist. Es gab keine Unterschiede und auch keine Trennung im Lauf der Welten. Diese Trennung ist Schleier, ist Maja - der Schein. Dahinter verbarg sich das Einssein im Wesen. Wenn er einem Bettler etwas gab, so beschenkte er sich selbst. Stahl er, so nahm er von sich selbst.

Langsam verblaßten diese Bilder und es kamen neue hinzu, welche aus der Mittagswelt. Auch hier sah er Neues und lernte, daß es Kräfte in ihm gab, die ihn hinderten und andere, die ihm helfen und ihn fördern konnten. Es lag in ihm selbst, die schöpferischen Kräfte zu vermehren und zu stärken.

Dann kam Eleras Welt, und er erkannte in ihr die Welt der Liebe. Der Großvater erschien ihm nochmals, und diesmal beantwortete er Gingas Frage. "Ställe und Zäune sind da, wo die Liebe wächst, nicht nötig. Im Gegenteil, mein Sohn, im einem Zaun wächst nichts Sanftes. Alle Liebe kommt aus der Freiheit und kann nur dort bestehen." Und Ginga sah, daß er selbst der Großvater war, daß er die Liebe schon lange erlebt hatte und in sich trug - nur hatte die Liebe nicht in den Zaun seines Kopfes gemocht.

Aber auch diese Welt verschwand wieder, und an ihre Stelle trat der herrschsüchtige Mann auf der Burg. Ginga sah ihn toben und spürte zugleich die Angst des Mannes. Die Angst, die aus dem tiefen Wissen kam, den falschen Weg gegangen zu sein. Aber Ginga sah auch das Licht, die kleine Kerze, die wie in jedem Menschen, so auch in diesem Manne, verborgen unter der bösartigen, grauen Schale klein und zart brannte. Und er sah, daß die fremde Frau dies erkannt hatte, und in der Gewißheit, in einer anderen Welt zu seinem Wesen vordringen zu können, alle Mühen und alle Schrecknisse erdulden konnte. Ginga wußte nun, daß die Liebe auch ein Erkennen, ein Wissen war und nicht nur ein Gefühl.

So verblaßte schließlich auch der Reigen der Welten, und der See ließ wieder Gingas Spiegelbild frei. Nur war es diesmal etwas fremd. Das Gesicht, in das er schaute, war älter, reifer geworden. Ginga war nun ein Mann, und er blickte lange Zeit in die unbewegten Augen, die ganz in der Tiefe leuchteten.

Die Sonne stand knapp über den Gipfeln der Berge, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Er drehte sich um, nahm ohne Erstaunen seinen langen Schatten wahr, und sah eine schlanke Gestalt aus dem Blätterwerk der alten Eiche springen. Es war eine junge Frau, und sie kam langsam auf ihn zu, bis er sie schließlich erkannte - Elera. Sie nahm seine Hand, und sie drehten sich zum See hin, die lächelnden Gesichter zur untergehenden Sonne gewandt. Wolken standen über den Gipfeln, und gemeinsam schauten sie den ewigwährenden Märchen und den immer neuen Spielen der Götter des Himmels zu. Glühend rot erstrahlten die stolzen Rösser des Himmels, auf denen immer veränderte Gestalten zu ewigem Tanze sich bewegten. Der Wald und die Tiere begleiteten mit ihrer leisen Melodie das grandiose Schauspiel des Pan, der hoch oben über allem auf seiner Flöte spielte. Eisige Winde zerzausten Roß und Reiter, um weiße Engelskinder einen leisen Reigen tanzen zu lassen. Immerfort wechselten Gestalten und Geschichten, bis Pan seine Flöte wegsteckte.

"Nimm Dein Bernsteinherz", sagte Elera, "und laß uns gehen." Sie hob die linke Hand, und an ihrem Ringfinger leuchtete pulsierend ein roter Edelstein. Ginga fühlte in seiner Tasche nach dem Kleinod, und als er seine Hand öffnete, lag dort ein Ring mit einem roten Edelstein. Er setzte ihn auf die linke Hand, und der Regenbogen schloß sich zu einem Kreis.

Sieben Tage hatte Ginga im Krankenlager gekämpft, aber auch der Medizinmann konnte nicht mehr helfen...

Autor: Detlef Fabian (1981)

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